Stína tímarit um bókmenntir og listir.


Saga-Machine by Hallgrimur Helgason


Ein Sommerabend im Jahr 1972. Ich bin noch ein Junge, den man
in den Ferien aufs Land geschickt hat, in den Süden Islands. Ich
sitze draußen vor dem Haus und blicke über das weite Unterland
vor dem Hof. Der Eyjafjallajökull ragt in den milden, windstillen
Abendhimmel. Eine alte Frau tappt zum Hühnerstall und sagt:
“Ach, was für ein schöner Abend! So war es bestimmt, als Gunnar
umgekehrt ist.”
“Gunnar?”, frage ich.
“Ja, Gunnar von Hlíðarendi.”
Sie redete von ihrem Nachbarn, dem Bauern auf Hlíðarendi. Er
lebte nur schlappe tausend Jahre früher und ist der Hauptheld in
der beliebtesten Saga der Isländer, der Saga von Brennu-Njáll. Die
Aussage der alten Bäuerin spielte auf eine bekannte Szene in dieser
Saga an, in der sich Gunnar, schon unterwegs zum Schiff,
entschließt, umzukehren und doch nicht den Weg in die
Verbannung im Ausland anzutreten, zu der er verurteilt worden ist.
“Schön ist dieser Hang, aber so schön habe ich ihn noch nie
gesehen, helle Felder und gemähte Wiesen. Ich werde nach Hause
zurückreiten und nirgends hinfahren.”
Wir sehen den Eyjafjallajökull um das Jahr 990 vor uns, unterhalb
von ihm einen kleinen, zaudernden Gunnar. Dann sehen wir
denselben Gletscher im Jahr 1837, und zwar in den Anfangszeilen
des Gedichts Gunnarsholm von Jónas Hallgrímsson (1807-1845),
dem besten Gedicht, das je ein Isländer geschrieben hat. In der
höchst unvollkommenen Übersetzung von Josef Calasanz Poestion
lauten die Verse: “Die sommerliche Sonne ist im Sinken / Mit
goldigroter Glut sie noch bestrahlt / Des Eyja-Gletschers
silberblauen Zinken. / Gen Ost dort steht die mächtige Gestalt ...”
(Endreime hat Poestion mit Müh und Not zuwege gebracht, doch
können sie mit der heineschen Leichtfüßigkeit Jónas
Hallgrímssons nicht Schritt halten, und vor den zusätzlichen
Stabreimen hat Poestion vollends kapituliert. Darum hier die Zeilen
des Originals: “Skein yfir landi sól á sumarvegi / og silfurbláan
Eyjafjallatind / gullrauðum loga glæsti seint á degi. / Við austur
gnæfir sú hin mikla mynd”.)
Das Gedicht, unter dem Einfluss von Chamissos "Deutsche
Barden: Eine Fiktion" gedichtet, benutzt die oben angesprochene
Szene in der Saga von Brennu-Njáll, um ein schlafendes Volk
aufzurütteln, und führt dazu den Helden ins Feld, der sich
entschließt, zu seinem Hof zurückzukehren, “Denn er
verschmähte Heil an fremdem Strand / Den Tod im Lande hat er
vorgezogen.”
Und wir sehen den Eyjafjallajökull ein drittes Mal vor uns, letztes
Jahr, als sein Gipfel in die Luft flog und Europa tagelang von seiner
Asche lahmgelegt wurde.
Tja, isländische Landschaften, isländische Sagas, isländische
Literatur ... Das Klischee erklärt uns zum Sagavolk von der
Sagainsel und befiehlt uns, immer weiter Geschichten, Sagas, zu
erzählen. Wenn wir jung sind, tun wir alles, um diesem Ruf oder
dieser Berufung zu entkommen und pfeifen auf die
altüberkommenen Klischees. Wir hauen ab, so weit es nur geht; wir
studieren Kunstgeschichte in Paris, touren mit einer Rockband um
die Welt, malen Bilder in Manhattan, besuchen die Witwe Bretons,
leben von Sozialhilfe in Kopenhagen, schreiben Antigedichte in
Taiwan, jodeln Lautgedichte und konkrete Poesie in Tallinn und
schlürfen Nektar auf Lesbos. Jeder isländische Schriftsteller nimmt
in seinen Anfängen einen möglichst langen Anlauf, weg von den
Sagas und den Gletschern, weg von Tradition und Stereotypen, um
einmal über die Mauer der Sagas in eine andere und freiere Welt zu
springen, in der ein Künstler seine Nationalität quitt ist und keine
Fragen nach tausend Jahre alten Schwarten zu beantworten
braucht. Die jungen Dichter wissen allerdings noch nicht, dass sie
am Hintern ein Gummiband haben, das mitten im Sprung seine
Maximaldehnung erreicht und sie dann flugs wieder auf den
heimischen Sagahof zurückbefördert, mitten hinein in den tiefen
Sagabrunnen. In den gottverfluchten Brunnen Mímirs. Ehe wir’s
uns versehen, “schreiben wir uns in die Tradition ein”, “schöpfen
aus dem literarischen Erbe”, “treten in Dialog mit den Sagas”.
Wir können es nicht ändern. Wir sind und bleiben Sagaländer.
“Woher kommt es, dass es in Island so viele Schriftsteller gibt?”
Diese Frage ist uns isländischen Schriftstellern im Vorfeld der
Buchmesse in den letzten Monaten von deutschen Journalisten
mindestens dreimal wöchentlich gestellt worden. Die Frage lässt
sich nicht einfach beantworten, zumal sie auf die ewige Frage der
isländischen Kultur zurückweist: Wie kam es, dass Island zur
Sagainsel wurde? Warum haben die Isländer mehr geschrieben als
andere Völker? Was hat das verursacht?
Wahrscheinlich haben mehrere Dinge zusammengewirkt: Die
überraschende Vermischung von norwegischen Abkömmlingen mit
irischen in einem neuentdeckten Land. Die historische Begegnung
zweier Kulturwelten: Nach gut hundert Jahren in dem neuen Land
nahm eine heidnische Bevölkerung im Jahr 1000 das Christentum
an. In der Folge davon warf sie die alten Runen zugunsten einer
gewaltigen Neuerung über Bord, des Alphabets. Diese Revolution
war womöglich größer noch als die Gutenbergs und der
Digitalisierung. Mit dieser Neuerung ergab sich die historische
Gelegenheit, die Geschichte einer neuen Nation praktisch von
ihrem ersten Tag an aufzuschreiben! Eine solche Gelegenheit
konnte man einfach nicht ungenutzt lassen. Die Reichen und
Mächtigen wollten “ausländischen Männern” beweisen, dass sie
“nicht die Nachkommen von Sklaven und Kriminellen” waren, wie
es in unserem Buch von der Landnahme heißt, dessen Anfänge bis
ins 12. Jahrhundert zurückreichen. Die Lage unserer Insel am Rand
der bewohnten Welt erforderte ja auch ständige Propaganda:
“Nein, wir sind nicht blöd und keine armen Socken! Nein, wir
haben keinen Fehler gemacht! Island ist ein tolles Land! Es geht
uns super! Irre Sachen passieren hier! Lest doch zum Beispiel mal
die Sagas!”
Es sind dieselben Töne wie aus Nordamerika während der weißen
Besiedlung. Der Wilde Westen erfand den Western. Das rauhe
Island schenkte uns die Isländersagas.
Seitdem schreiben wir. Seitdem haben wir gereimt, gedichtet,
geschrieben, uns erinnert. Das Goldene Zeitalter bestand von 1100
bis 1300: Eddalieder, Skaldendichtung, Königssagas, Isländersagas,
Grammatische Traktate und Geschichtsschreibung. Ari der
Gelehrte (1067-1148), Snorri Sturluson (1179-1241), Sturla
Þórðarson (1214-1284). Die meisten Hofdichter in den
Königshallen der skandinavischen Länder kamen aus Island. Nicht
zu vergessen die anonymen Schreiber, die die guten Sagas zu
Pergament brachten. Vierzig Geschichten von Siedlern in dem
neuen Land, die Meisten von ihnen Menschen, die schon 200 Jahre
tot waren, als ihre Geschichten aufgezeichnet wurden;
Geschichten, an denen das Volk ebenso lange gefeilt, die es
gekürzt, geschliffen, korrigiert und verbessert hatte. Aus genau
diesem Grund fanden die Schreiber es unmöglich, ihren Namen auf
das Titelblatt zu setzen, die Sagas sind ein echtes kollektives
Workshop-Projekt. Die Isländersagas wurden von den Isländern
verfasst. Sie sind unsere Bibel und fröhlich unbeschwert von
jeglicher Religion. Wir glauben an Literatur.
In jenem Goldenen Zeitalter waren wir, wie heute, eine
unabhängige Nation. Und damals unterhielten wir genau wie heute
Verbindungen mit der Außenwelt. Die Söhne der reichen
Großbauern gingen zum Studium an die Sorbonne und nach
Kantaraborg, sorry, Canterbury. Später haben wir beides verloren,
Unabhängigkeit und Verbindungen. Wir kümmerten unter den
norwegischen Königen dahin und konnten nicht länger in die Welt
hinaus segeln. Wir verloren die Initiative und das Bedürfnis zu
schreiben; obendrauf kamen noch ein paar Minusgrade: Die
Temperaturen sanken, dafür begannen die Berge Feuer zu spucken.
Das Leben in Island wurde für 500 Jahre düster, monoton und
entbehrungsreich. Der wichtigste Dichter dieser Epoche,
Hallgrímur Pétursson (1614-74), starb an Lepra. Aus seinen
eigenen Qualen schuf er ein zehn Meter langes Gedicht über die
Leidensgeschichte Christi, die jedes Jahr vor Ostern im Radio
gelesen wird. “Auf, auf, meine Seele und mein Sinn / mein ganzes
Herz und auch die Stimm’ ...”
Hallgrímur dichtete auch rímur, den damaligen Zeitvertreib. An
dunklen, kalten Winterabenden strickten sich die Leute Pullover,
was das Zeug hielt, und hörten dabei dem “Gedichtemann” zu, der
aus dem Gedächtnis rímur aufsagte. Das Schreiben auf Pergament
war passé, also wurden die Gedichte mündlich überliefert und
auswendig gelernt. Rímur sind endlose epische Balladen in
vierzeiligen Strophen mit End- und Stabreim. Beides waren
wichtige Memorierhilfen, damit der “Gedichtemann” sich umso
längere Strophenreihen einprägen konnte. Kleiner Exkurs zur
Verslehre: Die erste Zeile einer Strophe enthält zwei Reimstäbe
(stuðlar), was bedeutet, dass zwei Wörter in der Zeile mit
demselben Buchstaben anfangen; das erste Wort der zweiten Zeile
muss mit demselben Buchstaben, dem Hauptstab (höfuðstaf),
beginnen. Diese strengen Regeln haben ihren Ursprung noch im
Dróttkvætt, dem kompliziertesten Versmaß der heidnischen
Skaldendichtung, das überall in Europa ausgestorben ist, nur nicht
in Island. Bei uns ist es heute noch in voller Geltung. Selbst nach
der Einführung von Papier, elektrischem Licht, Schreibmaschine,
Fernseher, Computer und Internet ist unser beliebtester
Nationalsport, “eine Strophe hinzuwerfen”.
Vierzeiler sind der Frostinselleute
frühster Zeitvertreib,
werden dann als ihres Reimens Beute
spitz wie ein Stich in den Leib.
Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts fanden die modernistischen
“Atomdichter” endlich, es sei an der Zeit, aus dieser
Mittelalterrüstung zu steigen, und begannen “frei” zu dichten, ein
Unterfangen, das bei den Sachwaltern der Tradition Entsetzen und
Wut auslöste. Natürlich konnte man gegen die Atombombe nicht
in Ritterrüstung antreten, aber mit Argumenten: Wozu eine
Tradition ablegen, die in der Welt einmalig ist und zu den wenigen
Dingen gehört, die wir über tausend Jahre bewahren konnten? Die
Japaner essen und dichten doch nach 5000 Jahre alten Regeln Sushi
und Haiku und gelten damit als cool. Da geschah das
Überraschende: Junge Leute nahmen das Dichten mit
traditionellen Mitteln wieder auf. An erster Stelle Megas (Jahrgang
1945), den man als unseren Bob Dylan bezeichnen darf, und
Þórarinn Eldjárn (Jahrgang 1949). Viel später spielte dann die
Teenieband Sigur Rós eine ganze CD mit dem letzten
“Gedichtemann” Islands ein. Die mittelalterliche Rüstung kam
wieder in Mode. Heute schreiben die Leute “freie Verse” ebenso
wie gebundene.
Unser größtes Problem ist eigentlich nur, dass es uns, die wir mit
Heine in herrlich stabreimenden Versen groß geworden sind, ein
wenig schwerfällt, uns mit dem nicht alliterierenden Original
abzufinden. Für Isländer ist ein gereimtes Gedicht ohne
zusätzlichen Stabreim wie alkoholfreies Bier.
Wer unsern Heine so aufgewertet hat, war unser eigener Heine, der
schon erwähnte Jónas Hallgrímsson. Mit ihm kehrte nach fünf
dunklen Jahrhunderten das Licht zurück. 1807 wurde er geboren,
nur zehn Jahre nach Heine. (Die Zeit hat die Angewohnheit,
vergleichbare Genies in dieselbe Epoche zu werfen.) Jónas
Hallgrímsson kleidete isländische Tradition in neue, internationale
Mode und schlug einen gänzlich neuen Ton an. Seine Verse fließen
leicht dahin, voller durchgedrehter, aber wunderschöner Romantik,
manchmal blitzend vor Humor, manchmal sehr nationalistisch.
Jónas war nämlich einer der Vorreiter unseres
Unabhängigkeitskampfes. Auf ihn geht es auch zurück, dass das 19.
Jahrhundert in Island ein Zeitalter der Poesie wurde. Es endete mit
Davíð Stefánsson frá Fagraskógi (“vom schönen Wald”, 1895-
1964). “Die Spinnrocken verstummen,/ die Dämmerung wird still.”
Betrachtet man die Geschichte Islands aus der
Weltraumperspektive, darf man sagen, dass mit Jónas Hallgrímsson
eine neue Blüte der isländischen Literatur begann, die bis heute
anhält. Durch den heldenmütigen Einsatz so zäher Burschen wie
Pfarrer Matthías Jochumsson (1835-1920), der Byron und
Shakespeare übersetzte, während seine Frauen und Kinder sowie
die Hälfte seiner Gemeindemitglieder an Kälte oder Hunger
starben, kroch Island langsam wieder aus den
Grassodenbehausungen in ein kulturelles Leben und stellte wieder
Kontakt mit der Außenwelt her. Etliche gingen zum Studieren ins
Ausland, am Ende ganze Generationen, und unsere Isolation
endete förmlich, als erneut ein isländischer Dichter vor einen
skandinavischen König trat. Diesmal, um sich den Nobelpreis für
Literatur um den Hals hängen zu lassen. Nach 700 Jahren des
Schweigens war die isländische Saga-Maschine wieder in Gang gekommen.
Halldór Laxness ist das größte Märchen der isländischen
Geschichte. Ein Junge, der in einem Torfkotten am äußersten Rand
der Welt geboren wird, kauft sich von seinem Konfirmationsgeld
ein Krawatten-Halstuch, das er à la Byron bindet, und erklärt, er sei
ein Dichter von Weltrang. Ein halbes Jahrhundert später reist er in
einem Siegeszug um die Welt, schüttelt in Delhi Nehru die Hand,
in New York Duchamp und in Berlin Brecht. In all seinen
Romanen sind Goldkörner zu finden, und den Meisten ist Sein
eigener Herr am allerliebsten (Jonathan Franzen führt es in seiner
Liste der fünf besten Bücher, die er je gelesen hat), aber den Gipfel
der isländischen Literaturgeschichte bildet wohl doch der erste Teil
der Islandglocke. Ein besseres Buch kann man sich schwerlich
vorstellen. (Und selbstverständlich ist es mittlerweile an der Zeit,
dass sich eine neue Generation um neue deutsche Übersetzungen
der Werke dieses großen Meisters verdient macht.)
Laxness’ Vorgänger war Gunnar Gunnarsson (1889-1975), der sich
schon in jungen Jahren in Dänemark als Autor einen Namen
machte, indem er auf Dänisch schrieb, und der in Deutschland
unglaublich populär wurde, nur leider zur falschen Zeit.
Ein völlig verschrobenes Genie war Þórbergur Þórðarson (1888-
1974), der originellste und witzigste isländische Autor, im Ausland
aber kaum publiziert und demnach das bestbewahrte Geheimnis
der isländischen Literatur. Seine Spezialität sind
Dichterautobiographien, in denen er selbst, ein völlig überdrehter
Asperger-Nerd mit einer Manie, alles zu zählen und zu messen, als
urkomische Hauptfigur auftritt. Im Folgenden, einer Szene aus
“Das Genie” (Ofvitinn), verliert er bei kaltem Wetter auf einem
Reykjavíker Friedhof seine Unschuld:
“Die Stellung wechselte ins Horizontale, und sie presste mich zu
sich hinab.
Natürlich ist eine Weile vergangen. Dann kam eine Sturmbö mit
einem ordentlichen Schauer.
Das dauert aber ganz schön lange, murmelte das Freulein.
Ja, nicht wahr? Es war damit zu rechnen, dass Sie das sagen
würden. Es liegt an dem schlechten Wetter. Fühlen Sie sich nicht wohl?
Sie lockerte ein wenig den Griff, und ich nahm augenblicklich
schnellere Bewegungen auf. Endlich kam es. Welch
unvergleichliche Glückseligkeit! Dann war alles vorüber. Welch ein
Ekel! Schlag zwölf um Mitternacht schnappten sämtliche Regeln
wieder in Geltung, mitsamt allen Paragraphen einschließlich
Paragraph 1, Absatz a. Da war etwas ganz anderes, als dass sie mir
noch etwas bedeutet hätte. Sieht die Liebe in der Praxis so aus?”
Die beliebteste isländische Schriftstellerin des zwanzigsten
Jahrhunderts war jedoch die gute, alte Guðrún frá Lundi (1887-
1975), eine einfache Frau vom Lande in einer abgelegenen Region,
die nach langer Unterdrückung durch die Männerwelt mit 59
Jahren endlich ihr erstes Buch veröffentlichen konnte. Sie schrieb
den umfangreichsten isländischen Roman aller Zeiten, Dalalíf
(“Leben in den Tälern”), eine klassische Erzählung vom Leben auf
dem Land mit einem Umfang von 2189 Seiten, die die sogenannte
kulturelle Elite bis heute schlecht macht, die aber mehr poetische
Potenz enthält als vierhundert Lyrikabende mit rollig maunzenden
Jungpoeten und für hungrige deutsche Fernsehproduzenten einen
noch ungehobenen Schatz darstellt. In ihren Büchern bekommen
wir endlich den Blickwinkel der Frauen auf die eiskalte
Grassodenhauswirklichkeit vergangener Jahrhunderte. Guðrúns
Beschreibungen des “isländischen Kraftweibs” sind unbezahlbar:
“Dann küsste sie Sigþrúður so fest, dass ihr das Gesicht weh tat.”
Der staunenswerte Erfolg von Halldór Laxness führte
möglicherweise dazu, dass sich die nachfolgende Generation nicht
traute, sich mit ihm zu messen, und sich infolgedessen
modernistischen Experimentalromanen zuwandte, vor allem aber
der Lyrik. Den “Atomdichtern” und ihren Zeitgenossen fiel die
schwierige Aufgabe zu, über das zwanzigste Jahrhundert in einer
Sprache zu dichten, die für das zehnte zugeschnitten war. Der
Beste von ihnen war Steinn Steinar (1908-1958), der auf
einzigartige Weise die isländische Lyriksprache modernisierte und
den goldenen Mittelweg zwischen Vergangenheit und Gegenwart
fand. “Mein Leben stand still / wie eine kleine, kreisrunde Münze /
die auf der Kante stand.” Wunderbare und völlig neue Lyrik, und
doch stabgereimt und in die Tradition gemeißelt und imgrunde nur
eine Handbreit vom Dróttkvætt entfernt.
Der bedeutendste lebende Schriftsteller Islands ist Guðbergur
Bergsson (Jahrgang 1932), einer der ganz wenigen, der sich nie zur
isländischen Erzähltradition bekannt hat und nun mit bald achtzig
noch immer außerhalb steht, aber auch nirgendwo sonst stehen
möchte. Seine Originalität ist noch immer von jugendlicher
Frische, und man darf Bergsson zu den wildesten Punkern unter
den isländischen Schriftstellern zählen. Nichts ist ihm heilig, nicht
einmal Halldór Laxness. Er erschuf den größten Romanhelden der
Nachkriegsjahre, den unvergleichlichen Nörgler Tómas Jónsson.
“Ich arbeitete daran, mich durch Lesen gegen Bücher
unempfindlich zu machen, genauso wie man Menschen gegen
Kuhpocken impft, indem man ihnen Kuhpockenserum spritzt. Ich
machte mich unempfindlich gegen Kvaran, indem ich seine Bücher
las.” Guðbergur Bergsson brachte uns Isländern durch seine
Übersetzungen auch die Literatur der spanischsprachigen Welt
näher: Don Quijote und Gabriel Garcia Marquez.
Den amerikanischen Stil bekamen wir hingegen durch Indriði G.
Þorsteinsson (1926-2000), der nach Schmieröl duftende, knappe
und coole Texte schrieb, die die Nachkriegszeit in Island
ausnehmend gut einfingen. Eine der schönsten Seiten an diesem
“isländischen” Jahr der Frankfurter Buchmesse besteht darin,
bislang unübersetzte Schlüsselwerke der isländischen Literatur in
einer anderen Sprache entdecken zu können wie Þorsteinssons 79
af stöðinni (Taxi 79 ab Station), das vor kurzem auf Deutsch
erschien und gute Kritiken bekam.
Als sich um 1980 herum die Sonne auf den Buchseiten Laxness’
allmählich neigte, war es, als ob der Roman sogleich anderswo zu
neuem Leben erwachte. Die Bühne war frei. Wer bis dahin im Geist
einer modernistischen Avantgarde geschrieben hatte (die den
Isländern im übrigen nie leicht einging), gestattete sich nun auf
einmal traditionellere Stoffe und die Auseinandersetzung mit dem
überkommenen Erbe wie Thor Vilhjálmsson (1925-2011). Thor
war so etwas wie die Verkörperung des erzählerischen Feuers, ein
Meister des lyrischen Stils, der beim Reden mit den Armen
ausholte, als würde er große Seiten umblättern, und so selbst mehr
einem Buch glich als einem Menschen. Aber es debütierten auch
neue Gesichter wie Pétur Gunnarsson (Jahrgang 1947), Ólafur
Gunnarsson (Jahrgang 1948), Steinunn Sigurðardóttir (Jahrgang
1950), Vigdís Grímsdóttir (Jahrgang 1953), Einar Már
Guðmundsson (Jahrgang 1954), Einar Kárason (Jahrgang 1955)
und Thor Vilhjálmssons Sohn Guðmundur Andri Thorsson
(Jahrgang 1957). Für sie alle gab es genug zu tun, denn bis dahin
hatte noch niemand über die Ära nach den Beatles in Island
geschrieben. Diese Generation schenkte uns Titel wie Punktur
punktur komma strík (punkt punkt komma strich), Djöflaeyjan (Die
Teufelsinsel), Tímaþjófurinn (Der Zeitdieb) und Englar alheimsins
(Engel des Universums).
Dieser Zuwachs an Autorinnen und Autoren war nur der Vorläufer
eines noch breiteren Aufschwungs, der sich jetzt gerade zu voller
Blüte entfaltet. Sjón (Jahrgang 1962) bekam 2005 den
Literaturpreis des Nordischen Rats, Gyrðir Eliásson (Jahrgang
1961) erhielt den gleichen Preis in diesem Jahr 2011. Gyrðir war
schon früh ein reifer Autor und begann mit gerade mal zwanzig,
seine ganz eigene Welt aus Kurzgeschichten und Gedichten zu
weben. Sjón begann seine Laufbahn wie ehemals Laxness auf einer
fernen Insel des Avantgardismus, kam dann aber nach Hause und
begann im Folklore-Erbe zu wühlen. Bragi Ólafsson (Jahrgang
1962) hat verdientes Interesse für die sehr isländische Atmosphäre
der Stagnation und Vereinsamung gefunden, die er in seinen
Büchern und Theaterstücken schafft. Ólafur Jóhann Ólafsson
(Jahrgang 1962) hat als einer von ganz wenigen isländischen
Schriftstellern in den USA Fuß fassen können. Auður Ava
Ólafsdóttir (Jahrgang 1958) konnte unlängst mit ihrem
neuromantischen Roman Afleggjarinn(Weiß ich, wann es Liebe ist?)
ihren Durchbruch in Frankreich feiern, und Kristín Ómarsdóttir
(Jahrgang 1962) ist unsere (noch nicht preisbelohnte) Herta
Müller. Jón Kalman Stefánsson (Jahrgang 1963) hat in den letzten
Jahren für seine poetische Darstellung der Schneestürme
vergangener Zeiten in seinen Romanen Himnaríki og helvíti
(Himmel und Hölle) und Harmur englanna (Der Schmerz der
Engel)in vielen Ländern Bewunderung geweckt. Zur gleichen
Generation darf man auch noch Kristín Steinsdóttir (Jahrgang
1946) und Kristín Marja Baldursdóttir (Jahrgang 1949) zählen,
wenn sie auch ein klein wenig älter sind. Sie haben erst spät zum
Roman gefunden, doch lässt sich darin auch ein Stück
Emanzipation sehen wie bei Guðrún frá Lundi.
“In der Mannschaft steckt eine enorme Breite”, würde ein
Fußballtrainer sagen, keiner tritt dem anderen auf die Füße, jeder
beschäftigt sich mit etwas anderem, und doch ist jede und jeder der
hier Aufgezählten in andere Sprachen übersetzt worden. Die
Situation ist heute völlig anders als zu den Zeiten, da Halldór
Laxness der einzige auch im Ausland verlegte Isländer war. Unsere
Literatur ist keine One man show mehr. Nicht zuletzt ist das auch
unseren einheimischen Verlegern zu danken, die sich etwa seit 1990
besser mit ausländischen Kollegen vernetzt haben. Vor ein paar
Jahren wurde die Expansion der isländischen Literatur dann
entscheidend vorangebracht durch die Gründung des Isländischen
Literaturfonds, der Bewerbung um die Gastlandrolle in Frankfurt
und das damit betraute Komitee Sagenhaftes Island. Vielleicht
sollte man auch den “Björk-Faktor” nicht unterschätzen, denn
seitdem dieser Popstar die gesamte Weltpresse nach Reykjavík
sang, besteht ein gleichbleibend großes Interesse, das
wahrscheinlich mit unserem Auftritt als Ehrengast der Buchmesse
in diesem Herbst seinen Höhepunkt erreichen wird. Seine Folgen
sind augenscheinlich noch größer als uns schwante, und wir haben
das Gefühl, dass es lange dauern könnte, ehe wieder einmal ein
womöglich noch stärkeres Scheinwerferlicht auf diese merkwürdige
Insel im Nordatlantik gerichtet wird als derzeit. In den
zurückliegenden Jahren haben wir in Island alles eingeteilt in “vor
und nach dem Bankencrash”. Jetzt wird man bestimmt bald sagen
“vor und nach der Buchmesse”.
Die Krimiabteilung darf natürlich nicht vergessen werden. Wie in
anderen nordischen Ländern auch hat sich das Thrillergenre in den
letzten Jahren in Island dermaßen entwickelt, dass man sagen darf,
es sei seiner Mutter, der Schönliteratur, inzwischen über den Kopf
gewachsen. Unsere größten Krimiautoren (Yrsa Sigurðardóttir,
Ævar Örn Jósepsson, Stefán Máni, Viktor Arnar Ingólfsson, Árni
Þórarinsson)verkaufen mehr und weiter als die meisten “normalen”
Autoren. Der König des Krimis, Arnaldur Indriðason (Jahrgang
1961 und Sohn von Indriði G. Þorsteinsson), ist wahrscheinlich der
meistverkaufte isländische Schriftsteller aller Zeiten.
Auf die breit aufgestellte Generation und die Krimiwelle wird
demnächst eine neue Generation folgen und auf sie hoffentlich
wieder eine neue; es scheint in diesem kahlen Land einfach keinen
Mangel an Talent zu geben. Guðrún Eva Minervudóttir (Jahrgang
1976) hat seit ganz jungen Jahren einen Roman nach dem anderen
rausgehauen, in denen sie europäische Schauer mit isländischem
Wohlbehagen mischt, und Auður Jónsdóttir (Jahrgang 1973) ist
eine der wenigen isländischen Autorinnen, die sich nicht scheuen,
sich mit ihrer allernächsten Umgebung auseinanderzusetzen und
politisch über die Gegenwart zu schreiben. Einige der jungen
Sprösslinge schießen wie früher aus der Erde und gleich hinaus in
die Welt, so weit wie möglich weg von den verdammten
Erzähltraditionen. Oddný Eir Ævarsdóttir (Jahrgang 1972) rannte
zur Sorbonne, Kristín Eiríksdóttir (Jahrgang 1981) nach Toronto,
Sölvi Björn Sigurðsson (Jahrgang 1978) in die Arme von Dante,
und Huldar Breiðfjörð (Jahrgang 1972) lief die ganze chinesische
Mauer ab. Eiríkur Örn (Jahrgang 1978) lebt in Lappland und
Steinar Bragi (Jahrgang 1975), unser Houellebecq, möchte nirgends
lieber sein als in Peru, Laos oder Osttimor.
Irgendwann einmal werden sie einer nach dem anderen zuhause
auftauchen und sich dazu bekennen, auch Sagaländer zu sein und
sagaländische Romane, Kurzgeschichten, Erzählungen und
Gedichte zu schreiben, genauso wie es einige ihrer Gleichaltrigen
längst tun: Andri Snær Magnason (Jahrgang 1973), der wacheste
und kreativste Kopf des Landes, dessen Romane, Kinderbücher
und Dokumentarfilme gleich stark sind, und der seine Laufbahn
damit begann, CD’s mit alten Reimliedern zu veröffentlichen. Der
Bestseller des letzten Jahres war eine urisländische
Liebesgeschichte von Bergsveinn Birgisson (Jahrgang 1971) samt
unserem Nationalsport, dem kennerischen Abtasten von
Schafböcken. Ófeigur Sigurðsson (Jahrgang1975) schrieb einen
Roman über den berühmten Feuerpriester Jón Steingrímsson, der
im 18. Jahrhundert mit seiner Predigt einen Lavastrom zum Halten
gebracht hat. Und dem Buch, das den Isländischen Literaturpreis
2011 erhielt, dem Gedichtzyklus Blóðhófnir (“Bluthuf”) von
Gerður Kristný, liegt ein Eddalied aus der Zeit vor dem Jahr 1000
zu Grunde.
Es ist also völlig gleichgültig, wie oft und kräftig man das
Isländische mit fremden Einflüssen impft oder ihm die neuesten
Ideen von draußen aus der Welt vorsetzt. Es mampft sie sofort in
sich hinein, schüttelt sich ein bisschen und rülpst dann mit einem
etwas gewöhnungsbedürftigen, neuen Geruch. Wir reden hier von
einem tausend Jahre alten Biest, das im Lauf der Zeit so einiges
mitgemacht hat, davon, ein paar Jahrhunderte lang bewegungslos in
einem Stall zu liegen, bis zur Überquerung von Bergen und
Hochflächen in heftigstem Schneesturm. Das Isländische ist
stärker als wir. Am Ende kapitulieren wir alle vor ihm.
Die Isländersagas wurden auf Fell geschrieben. Auf unser Fell. Wir
tragen sie durch die Welt wie ein Tattoo auf dem Rücken. Wir
versuchen diese Tatsache zu vergessen, während wir unsere eigenen
Texte verfassen; andere aber sehen sie immer. Wir sind und bleiben
eben Sagaländer.


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